Der verzauberte Garten    (Märchen)

 

Vor vielen Jahren zog ein junger Musikant durch die Lande, um mit seinen Liedern die Menschen zu erfreuen. Überall dort, wo er hinkam, seiner Laute die schönsten Melodien entlockte und dazu sang, erntete er großen Beifall und wurde mit Essen und Trinken, manchmal sogar mit ein paar Geldmünzen belohnt. Während der warmen Jahreszeit schlief er unterm freien Himmelszelt, bei Kälte und Regen in Scheunen auf Bauernhöfen oder im Schankraum eines Wirtshauses.

 

So kam der Jüngling auf seiner Wanderschaft auch in das kleine Königreich Schöntal. Bei diesem Namen, so dachte er, muss es sich hier ja wirklich gut leben lassen, und er marschierte frohgelaunt auf die ersten Getreidefelder zu. Dort gingen die Bauern gerade ihrer Beschäftigung nach.

„Seid gegrüßt, ihr lieben Leute!“, rief der Musikant den Arbeitern fröhlich zu. „Ich möchte euch das Schaffen gerne mit meiner Musik versüßen.“

„Geh weiter und lass uns in Ruhe!“, riefen ihm die Leute vom Feld jedoch unfreundlich zu.

Welche Laus mag denen wohl über die Leber gelaufen sein, fragte sich der Musikant und wanderte leicht betrübt in den Ort hinein. Auf einer Wiese sah er mehrere Kinder im Grase sitzen und schlug ein paar Takte auf seinem Instrument an.

„Hallo, ihr junges Volk, kommt, singt mit mir ein schönes Lied!“, rief er ihnen zu.

Die Kinder aber blieben ihm fern und riefen im Chor: „Geh weiter und lass uns in Ruhe!“

Diese Töne waren dem Musikanten fremd, denn noch nirgends hatte man ihn so abgewiesen wie hier in Schöntal. Traurig senkte er den Kopf und ging auf die Häuser zu. Vielleicht waren ja die Frauen, die Haus und Hof versorgten, während ihre Männer auf den Feldern arbeiteten, etwas zugänglicher und vor allem freundlicher gestimmt.

 

„Ihr guten Frauen, alt und jung,

lasst uns ein Liedchen singen.

Musik bringt in die Arbeit Schwung.

lässt alles gut gelingen“,

 

rief der Jüngling so laut, dass es wohl kaum zu überhören war.

Einige Haustüren wurden geöffnet und die Frauen erschienen.

„Geh weiter und lass uns in Ruhe!“, riefen auch sie dem Musikanten unfreundlich entgegen und schlugen die Türen wieder zu.

 

Mit gesenktem Kopf wanderte der Bursche weiter und verstand die Welt nicht mehr. Als er das Dorf fast durchquert hatte, sah er einen alten, schon ziemlich gebrechlichen Hund im Schatten eines Baumes liegen. Der Musikant ging zu ihm hin, bückte sich und streichelte das Zottelfell des Tieres. „Ach, könntest du mir nur sagen, warum die Menschen in Schöntal so unfreundlich zu mir sind“, sprach er zu ihm, erhob sich und betrachtete die Umgebung. 

 

„Was willst du hier bei uns, Musikant?“

Der Jüngling erschrak und schaute sich um. Ein altes Mütterchen stand, auf einen Stock gestützt,  jetzt dort, wo kurz zuvor noch der Hund gelegen hatte. 

„Sei gegrüßt, Mütterchen“, erwiderte der Jüngling in der Hoffnung, doch noch einen freundlichen Menschen an diesem Ort vorzufinden. „Meine Wanderschaft hat mich zu euch geführt. Ich wollte die Leute hier mit meinen Liedern erfreuen, doch man schickt mich wie einen Störenfried unhöflich weiter. Warum?“ 

Die alte Frau geht einen Schritt auf den Jüngling zu und sagt:

„Das liegt bestimmt nicht an deiner Musik. Aber sie wird die Menschen von Schöntal wohl kaum erfreuen, es sei denn, du könntest damit den Zauberbann von unserem König und seinen Schlossbewohnern  brechen.“

  

„Was ist denn geschehen?“, fragte der Musikant, jetzt neugierig geworden.  Und er erfuhr von dem Mütterchen, was sich vor einiger Zeit hier zugetragen hatte. 

„Vor vielen Monaten kam ein Zauberer auf seiner Reise in unser Königreich und gelangte auch zum Schloss. Er bat um Obdach für ein paar Nächte und lernte die Prinzessin, das einzige Kind des Königspaares, kennen. Sofort entbrannte er in Liebe zu ihr und wollte sie zu seiner Frau machen. Das schöne Mädchen aber weigerte sich und bat den Vater, den Zauberer umgehend fortzuschicken. Das tat der König auch.

Tags drauf erschien der Abgewiesene erneut vor dem Palast und sprach einen  Zauberspruch aus, der schlimme Folgen für Schöntal hatte:

Das Königspaar und alle, die im Schloss lebten, verwandelten sich in Steinsäulen. Die Prinzessin jedoch wurde in eine Rose verzaubert, die von nun an im königlichen Garten unter all den anderen Pflanzen ihr Leben fristet.

Die Bewohner rund um das Schloss, die den König und seine Familie sehr verehren, sind seitdem unglücklich und mit Traurigkeit erfüllt. Erst wenn es einem Jüngling gelingen sollte, aus allen Blumen die Prinzessin heraus zu finden, wird der Bann vom Königreich genommen. Ich habe die Worte des Zauberers mit angehört.“

 

Der Musikant hatte der alten Frau gespannt zugehört.

„Eine Rose zu finden, das dürfte doch ein Leichtes sein“, sagte er erfreut nach einigen Minuten.

„Ach, Jüngling, das haben vor dir schon mehrere Prinzen gedacht und mussten ohne Erfolg wieder davonziehen. Doch du solltest um den Garten wissen, denn auch er ist verzaubert.

Nichts ist dort so, wie es ausschaut,

eine Rose muss nicht die Prinzessin sein,

und der Löwenzahn auch nicht Unkraut,

folge nur dem Herze dein.

 

Der Musikant sah ein Blitzen in den Augen des alten Mütterchens.

„Geh und versuche dein Glück“, flüsterte sie, „oder verlasse diesen Ort auf der Stelle.“ Bevor der Musikant noch etwas erwidern konnte, war die Frau verschwunden und statt ihrer lag wieder der alte, zottelige Hund zu seinen Füßen.

 

Es dauerte nicht lange, da erreichte der junge Mann den Schlossgarten, dessen Tor sich mühelos öffnen ließ. Munteres Vogelgezwitscher und das Summen vieler Insekten begrüßte ihn. Vorsichtig trat er ein und erblickte sogleich die Schönheit von unzähligen, wunderbaren roten Rosen rechts und links eines breiten Kiesweges. Da der junge Musikant ein Naturbursche war, kannte er fast alle Pflanzen unterm Himmelszelt und die hier sahen nicht so aus, als seien sie verzaubert.

Doch auf einmal wehte ein starker Windstoß ganz dicht an ihm vorbei und warf krachend die Gartenpforte zu. Als der Musikant sich von diesem Schrecken erholt hatte, spürte er fast körperlich, dass sich etwas verändert hatte. Es war still geworden und das beunruhigte ihn. Plötzlich bot sich seinen Augen ein völlig anderes Bild und es wurde ihm unheimlich zumute. Nelken blühten jetzt an den dornigen Rosenhecken. 

„Das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte der Musikant vor sich hin und da bekam er schon den nächsten Schock, als die Pflanzen zu sprechen begannen:  „He, Fremder, lockere die Erde um uns herum etwas auf. Die Wurzeln bekommen keine Luft mehr.“

Der junge Mann drehte sich um, und wollte auf dem schnellsten Weg den Garten verlassen, aber da fiel ihm ein, dass er ja aus einem ganz bestimmten Grund hergekommen war.  

„Bitte, lockere die Erde auf“, riefen die Pflanzen erneut.

„Ich suche aber die Prinzessin, die der Zauberer in eine Blume verwandelt hat“, entgegnete der Jüngling.

„Da musst du sie schon selbst suchen. Doch jetzt hilf uns bitte.“

„Womit soll ich denn die Erde auflockern?“, wollte der Bursche wissen. „Ich habe weder Harke noch Rechen.“

„Nimm deine Hände, aber beeile dich, sonst ersticken die Wurzeln und wir müssen sterben.“ Der Musikant bückte sich widerwillig und begann mit seinen Händen, die solche Arbeit nicht gewöhnt waren,  die schon ziemlich trockene, feste Erde aufzulockern. Als er fertig war, betrachtete er seine verschmutzten Finger und säuberte sie, so gut es ging, mit dem einzigen Taschentuch, das er besaß. Er nahm hastig seine Laute an sich und lief weiter, bevor die Pflanzen erneute Forderungen an ihn stellen konnten.

      

Als der Jüngling zwischen einigen Bäumen hindurch schlüpfte, fühlte er plötzlich, wie sich etwas ganz sacht um seinen Hals schlängelte und dann weiter um seinen Brustkorb. Er erschrak, als er die Schlingpflanze bemerkte, die ihn ansprach: „Es hat lange nicht geregnet, gib uns bitte Wasser!“ Dann ließ sie seinen Körper wieder los. Der Musikant war sprachlos und riss seine Augen auf. Schlingpflanzen, die auf Bäumen wuchsen, wo eigentlich Blätter hätten sein müssen, hatte er noch nie gesehen. 

„Nun hol schon Wasser, wir verdursten sonst noch!“, riefen jetzt auch die anderen Schlingpflanzen ungeduldig von oben herunter und plötzlich tönte es wie ein Chor aus allen Richtungen: „Wir brauchen Wasser, gib uns zu Trinken.“

So schaute sich der Jüngling nach einem Brunnen oder einem Teich um. Was er dabei alles noch zu sehen bekam, hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.

Nichts ist so, wie es ausschaut. Die Worte der alten Frau fielen ihm wieder ein und jetzt verstand er, was sie gemeint hatte.

 

Äpfel und Birnen hingen nicht wie üblich an Bäumen, sondern wuchsen auf kleinen Stengeln Efeu rankte nicht an Mauern empor, sondern schlängelte sich um die blattlosen Äste vieler Eichen, wie er es schon vorhin bei den Schlingpflanzen auf den Buchen gesehen hatte. Selbst die Birken hatten sich verändert und trugen ein grünes Kleid aus Tannennadeln. An den Ginsterbüschen hingen die Haselnüsse und die weißen Margeritenblüten zierten den Wachholderstrauch. Nichts stimmte mehr in diesem Garten. Veilchen wuchsen auf Lilienstengeln und  Rittersporn an Fliederbäumen. Die Rosen entdeckte der Musikant schließlich auf den Stielen des Löwenzahn und durch die Haselnusssträucher schimmerten gelb die Sonnenblumen.

Es passte nichts mehr zueinander und alles verwirrte ihn. Wie sollte er hier die Prinzessin finden? 

 

„Bring uns endlich Wasser!“, tönte es erneut von allen Seiten. „Wir verdursten sonst.“

Endlich entdeckte der Jüngling einen Pumpenbrunnen. Er fand gleich daneben eine Gießkanne und stellte sie unter den Wasserhahn. Dann begann er zu pumpen, bis endlich das kühle Nass heraus sprudelte. Kanne um Kanne füllte er, um jede Blume, jeden Strauch und auch die Bäume im ganzen Garten zu bewässern. Dabei verging so viel Zeit, dass er darüber Abend wurde. Als der Musikant endlich mit dieser Arbeit fertig war, brach er vor Erschöpfung neben dem Brunnen zusammen und fiel in einen tiefen Schlaf.

 

Der Jüngling träumte in der Nacht von einer Fee, die zu ihm kam und eine Decke aus Klee über ihn breitete. Dabei beugte sie sich so weit zu ihm hinunter, dass er eine kleine weiße Gänseblume in ihrem Haar erblickte. Die Fee flüsterte ihm etwas zu, doch er konnte die Worte nicht verstehen. Dann verschwand sie.

 

Kurz nach Sonnenaufgang erwachte der Musikant und streckte sich. Zuerst wusste er nicht, wo er sich befand, dann fiel sein Blick auf den Brunnen und die Erinnerung an den Tag zuvor kehrte zurück.

Er musste unbedingt die Prinzessin finden!

Hastig stand er auf und da sah er die aus lauter kleinen Kleeblättern geflochtene Decke.

„Ich habe also doch nicht geträumt“, sprach er laut zu sich selbst. „Dieser Garten ist wirklich sehr seltsam.“

Mit dem Brunnenwasser wusch er sich Gesicht und Hände, griff seine Laute  und machte sich auf die Suche nach einer verzauberten Rose. Wenn er nur wüsste, in welche Blume sich die Prinzessinnen-Rose verwandelt hatte.

 

Er betrachtete auf seinem Gang jede Blühpflanze sehr genau und immer wenn er fragte: „Bist du die Prinzessin?“, dann schüttelte sie ihren Blütenkelch und der Musikant ging jedes Mal traurig weiter.

Um die Mittagszeit ließ er sich auf einem kleinen Stück Rasen nieder, nahm die Laute, zauberte mit seinen Fingern eine liebliche Melodie und sang dazu.

 

Oh Prinzessin, holdes Wesen,

warst einst ein Menschenkind gewesen,

hast abgewiesen einen Mann,

der um dich wob den Zauberbann.

 

Als Blume hier im Königsgarten

musst auf Erlösung du jetzt warten,

schon viele Prinzen sind gekommen,

von weit, weit her, aus fernem Land,

die dich zur Frau wohl gern genommen.

Doch ich bin nur ein Musikant.

 

Willst trotzdem du die Hand mir reichen

auch wenn ich nicht hab Gut und Geld,

so gib mir doch ein kleines Zeichen,

dann schenk ich dir das Himmelszelt.

Auch die Sterne und das Sonnenlicht,

wenn du nicht willst, dann gehe ich.

 

Als die letzten Töne verklungen waren, blieb es einige Augenblicke still, doch dann brach ein Jubelchor los. „Bravo, bravo, bitte noch ein Lied.“ Der Musikant lächelte vor sich hin. Blumen, Sträucher und Bäume hatten bisher noch nicht zu seinem Publikum gehört. Er stand auf und verbeugte sich. „Danke euch allen!“, rief er laut. Als es wieder ruhig geworden war, vernahm er ein leises Stimmchen direkt neben sich. „Bravo, bravo. Dein Lied hat mir sehr gefallen.“

Der Musikant schaute ins Gras hinunter und da sah er es, ein einsam stehendes unscheinbares, halbverwelktes Gänseblümchen. „Habe ich dich etwa vergessen zu gießen? Das tut mir leid“, sprach der Jüngling und beugte sich zu ihm hinunter. „Ich hole dir sofort frisches Wasser.“ Vorsichtig berührte er die kleinen weißen Blättchen und fühlte mit einem Male wieder einen starken Windstoß, der ihn diesmal zu Boden riss. Als er wieder aufstand, blickte er direkt in die blauen Augen eines Mädchens. „Bist du etwa die Prinzessin?“, fragte der Musikant mit bebender Stimme.

„Ja“, antwortete die Schöne, „du hast mich und mein Volk von dem bösen Zauber erlöst.“

„Dann warst du die kleine Gänseblume“, stellte der Jüngling fest.

„Ja. Ich wurde von dem Zauberer in eine Rose verwandelt und jedes Mal, wenn ein junger Mann den Garten betrat, um mich zu erlösen, verschwanden alle Vögel und Insekten und die Pflanzen und Bäume verwandelten sich. So wurde aus der schönen Rose, nach der alle suchten, eine unscheinbare Gänseblume, die niemand beachtete. Du bist der Erste, der mich nicht übersehen hat, dir will ich für immer mein Herz schenken.“   

 

Und am Ende waren alle wieder glücklich. Nachdem die Prinzessin erlöst worden war, fiel der Zauber auch von den anderen Schlossbewohnern. Zu den Menschen in Schöntal kehrte die Fröhlichkeit zurück und sie hatten wieder Spaß am Leben.

Der Musikant feierte mit der Prinzessin ein großes Hochzeitsfest. Er spielte und sang fortan nur noch für seine schöne Gemahlin, ab und an jedoch auch für die Bewohner von Schöntal. 

 

 

 

 

 

 

 

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