Tod am Neunerköpfle

Zwei Wochen Urlaub! Zwei Wochen nichts als Berge, Seen, Wandern, Sonne, wenn möglich jeden Tag, und ganz nebenbei die Seele baumeln lassen. Hanna und Frank Scholz liebten die Alpen, liebten Tirol und das Tannheimertal. Sie kamen gerne, Jahr für Jahr. Dann wohnten sie vierzehn Tage lang bei den Wagners im Haus Waldesruh, das ruhig und idyllisch auf einer Anhöhe am Fuß des Einsteins stand.

Doch dieser Urlaub verlief anders, als all die anderen zuvor.  

Vom Balkon ihrer Ferienwohnung aus hatten sie einen herrlichen Blick über die Landschaft, über hübsche Häuser mit buntem Blumenschmuck, grüne Wiesen, die das Tal bis ins Dorf hinunter säumten und viele Wege, die zum Wandern wie geschaffen waren. Eine atemberaubende Bergkulisse im Hintergrund rundete das Bild ab. Motive zum Fotografieren fand Frank hier sicher wieder zur Genüge. Neben der Fotoausrüstung hatte er diesmal auch seine neueste Errungenschaft dabei. Ein nagelneues und supermodernes Fernrohr, das seinen Platz vor dem Schlafzimmerfenster fand. 

Während der ersten acht Tage verlief alles normal. Hanna und Frank machten viele Ausflüge und genossen die schönen Tage. Jedoch am Montag der zweiten Woche schlug nicht nur das Wetter um. Schon in der Früh sah der Himmel trübe aus. An den Berggipfeln hingen schwere graue Wolken. Nebel stieg von der Erde empor. Leichter Nieselregen fiel.

„Mit der Landsberger Hütte wird es heute wohl nichts!“, meinte Hanna enttäuscht. Ihr Mann, der gerade den Frühstückstisch deckte, brummelte: „Sieht ganz so aus. Wir hätten den Aufstieg doch gestern machen sollen.“

„Den Vorschlag habe ich dir ja schon am Samstag gemacht, nachdem der Wetterbericht für den Wochenanfang nicht allzu rosig ausfiel. Aber du wolltest lieber zum Haldensee. Wir sind ja noch bis zum Wochenende hier, vielleicht ist uns Petrus ja gnädig gestimmt.“

Nach dem Frühstück schlug Hanna Pfronten vor. „Dort gibt es das beste Eis, schmeckt auch bei Regen“, erwiderte sie. „Und es gibt sehr schöne Geschäfte, da würde ich gerne ...“

„Nur das nicht“, schnitt Frank ihr das Wort ab. „Du weißt, wie sehr ich Einkaufen hasse, wenn du stundenlang Läden heimsuchst und am Ende doch nichts findest!“

Na toll.

„Stundenlang ist ja wohl etwas übertrieben“, antwortete Hanna schroff. „Aber wenn es um deine Hobbys geht, da ist dir kein Weg zu weit.“

„Lass uns jetzt nicht streiten, Schatz!“, beruhigte er sie. „Wenn du unbedingt einkaufen willst, dann mach das. Ich setze mich dann solange in den Schwanen, wo wir später dann essen können.“

Aber dann fuhren sie doch nicht, weil ein kräftiges Gewitter heranzog und das Tal in Windeseile in eine schwarze Hölle verwandelte. Erst am Mittag wurde es besser. Gegen siebzehn Uhr kam sogar die Sonne heraus.

 Hanna riss alle Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen. Frank betrat den Balkon und rief voller Begeisterung:  

„Hanna, das musst du dir unbedingt anschauen!"

Kurz darauf stand sie neben ihm und sie betrachteten beide das Alpenglühen. Glutrot zeigte sich das Gebirge dort, wo es von der Sonne angestrahlt wurde.  

Frank holte seine Kamera. Auch Hanna wollte sich dieses Schauspiel am Neunerköpfle nicht entgehen lassen und schaute kurz darauf durch das Fernrohr, zoomte immer weiter heran, um mehr Details zu erhaschen. Sie sah die in der Abendsonne glühenden Felsen, Bäume, die lange Schatten warfen und eine Gondelbahn, die hinunter zur Talstation fuhr. Steile Hänge, einen leeren Fußweg, sie fuhr ihn mit dem Fernrohr ab und erblickte dann doch noch zwei Wanderer. Sie suchte den Weg weiter ab, konnte aber sonst keine weiteren Ausflügler mehr entdecken. So schwenkte sie wieder zurück, sah abermals die zwei Gestalten, die jetzt nicht mehr den Eindruck harmloser Wanderer machten. Es sah eher danach aus, als würden sie sich streiten, denn sie rangen heftig miteinander. Hanna konnte nicht anders, als weiter zu schauen. Jetzt stieß der eine von ihnen den anderen mehrmals gegen die Brust, so dass dieser nach hinten taumelte. Hanna hielt die Luft an. Wenn der nun das Gleichgewicht verlor und rückwärts den Abhang hinunterstürzte?

Hanna wollte noch näher heran zoomen, aber sie hatte das Limit schon erreicht.   

Aufgeregt rief sie nach Frank, behielt jedoch die Szene weiter im Auge. Da! Nun ging der Gestoßene zu Boden. Jetzt bückte sich der andere und hielt plötzlich etwas Längliches, vielleicht einen Stock oder einen Ast, vermutete Hanna, in der Hand. Sie hielt die Luft an, als der Kerl auf den am Boden liegenden Mann einschlug.    

„Frank, nun komm doch mal. Am Neunerköpfle passiert gerade etwas!“

Endlich kam er. „Was ist passiert?“

„Da, schau es dir selbst an.“ Sie machte ihm Platz, damit er durch das Rohr sehen konnte. Dieser kurze Moment dauerte sicher nicht länger als drei Sekunden.

„Was siehst du?“, fragte sie aufgeregt.

„Nichts“, war die Antwort, dann: „Doch, da geht einer spazieren. Das ist alles. Deshalb rufst du mich rein?“

„Es müssen aber zwei Personen sein“, sagte sie und schob sich wieder vor das Fernrohr. Sie schwenkte es leicht nach rechts, dann nach links und sah jetzt auch nur noch eine einsame Gestalt talwärts gehen. Aber wo war die zweite Person? Hanna suchte den Wanderweg ab, so gut dieser zu überschauen war. Aber sie konnte niemanden sehen. Das machte sie stutzig. Ihr kriminalistischer Spürsinn regte sich.   

Aufgeregt erzählte sie Frank von ihrer Beobachtung und meinte zum Schluss: „Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass da etwas passiert ist.“

„Wie willst du das auf diese Entfernung hin einschätzen, Hanna?“

„Du hast doch selbst gesehen, wie weit man mit dem neuen Fernrohr ein Objekt heran zoomen kann, Frank.“

„Ja, schon, ich habe aber nur eine Person gesehen. Vielleicht hat sich die andere in dem Moment davongemacht, als du mich an das – es ist eigentlich ein Teleskop – gelassen hast.“

Hanna ärgerte sich etwas über die Belehrung, erwiderte dennoch freundlich: „Dann muss diese Person aber geflogen sein. Oder sie hat sich in Luft aufgelöst.“

„Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen, Hanna. Ich glaube dir ja, dass du zwei Personen gesehen hast, aber sie können auch einen harmlosen Streit ausgetragen haben. Das soll vorkommen.“

„Und wo ist dann die zweite Person? Die müsste dann ja auch noch irgendwo auf dem Weg zu sehen sein.“

„Lass uns jetzt nicht den ganzen Abend darüber diskutieren. Ich für meinen Teil habe Hunger, du nicht auch?“

Hanna ließ das alles keine Ruhe. „Da ist etwas passiert. Wir sollten die Polizei verständigen.“

„Nun ist es aber gut, Hanna.“ Franks Stimme klang jetzt eine Spur schärfer. „Du siehst zu Hause einfach zu viele Krimis. Wir rufen nicht die Polizei. Ich mach mich doch nicht lächerlich.“

Somit war für ihn die Sache erledigt, doch Hanna beschäftigte das, was sie gesehen hatte.

Sie entschloss sich dennoch, bei der Gendarmerie in Tannheim anzurufen. Frank redete es ihr aus, doch ohne Erfolg. In der dicken Mappe, die in jeder Ferienwohnung lag, fand Hanna die Nummer des Polizeipostens. Sie hatte Glück, dass sich noch jemanden um diese Zeit dort aufhielt. Sie schilderte dem Beamten ihre Beobachtung und wartete auf dessen Reaktion.

Etwas zu langsam für ihre Begriffe antwortete er.

„So, durch ein Fernrohr wollen Sie das beobachtet haben?“

„Ja, und jetzt sagen Sie bitte nicht, dass ich mich bestimmt geirrt habe und es sich lediglich um harmlose Wanderer handelt, die etwas in Streit geraten sind.“

„Sie nehmen mir das Wort aus dem Munde, Frau ...“

„Scholz.“

„Frau Scholz. Gut. Darf ich fragen, wo Sie wohnen?“

Sie sagte es ihm.

„Das ist doch in Untergschwend. Eine recht große Entfernung zum Neunerköpfle. Durch ein Fernrohr wollen Sie das gesehen haben?“

Hanna holte tief Luft. Hielt der sie etwa für bescheuert?  

„Ja, genau. Es ist ein ganz neues Modell mit hoher Zoomzahl und gehört meinem Mann.“

„Hat Ihr Mann auch diese Beobachtung gemacht?“

„Nein. Er hat nur einmal kurz durch das Rohr geguckt, aber da war nur noch eine Person zu sehen.“

„Hören Sie, Frau Schulz ... ähem Scholz, es wäre doch möglich, dass diese beiden Personen wirklich nur einen harmlosen Streit hatten.“

„Nennen Sie es etwa harmlos, wenn einer mit einem Gegenstand auf den anderen einschlägt? Ich nicht!“

„Natürlich nicht“, antwortete der Polizist. Hanna hörte ihn deutlich tief einatmen, bevor er weiter sprach. „Konnten Sie denn wenigstens sehen, was mit der geschlagenen Person weiter geschah?“

„Nein, ich habe Ihnen ja bereits gesagt, dass ich meinem Mann kurz das Fernrohr überließ.“

„Dann haben Sie also nicht gesehen, wie der andere eventuell zu Schaden kam.“

„Nein. Wenn Sie mir nicht glauben, Herr Wachtmeister, dass man mit unserem Fernrohr bis zum Neunerköpfle schauen kann, dann kommen Sie vorbei und überzeugen sich selbst davon.“

„Heute nicht mehr, mein Dienst ist bald um, ich ...“

„Ich bestehe aber darauf, dass Sie meine Beobachtung ernst nehmen. Sind Sie Polizist oder nicht?“, fiel sie ihm ins Wort.

Der Polizist brummelte irgendetwas vor sich hin, das Hanna nicht verstand, dann meinte er recht frostig: „Ich werde sehen, ob ich es heute noch schaffe. Guten Tag!“  

Frank war nach dem Telefonat recht reserviert. „Du hast ihm bestimmt nicht mit deiner Hartnäckigkeit imponiert“, meinte er.

„Das ist mir vollkommen egal, er ist Polizist und hat dieser Sache nachzugehen. Nur nimmst du mich leider auch nicht ernst, stimmts?“

„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Nicht ich, sondern du hast zwei Personen gesehen, die angeblich stritten. Kann harmlos gewesen sein und kommt in den besten Kreisen vor. Vielleicht bildest du dir jetzt ein, dass dem einen etwas zugestoßen ist, weil der plötzlich nicht mehr da war.“

„Du hältst mich also für überdreht.“

„Das habe ich nicht gesagt, Hanna. Aber es ist ja möglich, dass du eine harmlose Handgreiflichkeit eben falsch gedeutet hast. Lass die Sache auf sich beruhen. Ich rufe bei der Gendarmerie an und ...“

„Nein, Frank. Ich bleibe bei meiner Version“, unterbrach sie ihn.

Der Polizist kam tatsächlich noch. Er war um die Vierzig und schaute nicht gerade freundlich drein. Hanna führte ihn nach der knappen Begrüßung zum Fernrohr. Zuerst schaute sie hindurch und suchte die betreffende Stelle, dann machte sie dem Beamten Platz.

„Sie können direkt auf den Weg schauen, links neben dem  ziemlich dicken Baum ist die Stelle, wo ich die zwei Personen gesehen habe.“

Der Gendarm, der sich als Wachtmeister Pötschke vorgestellt hatte, schaute durch das Fernrohr und meinte etwas pikiert: „Nun ja, man kann tatsächlich ganz gut bis hinüber zum Neunerköpfle schauen. Die Sicht ist ziemlich klar. Konnten Sie denn auch erkennen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte?“

„Nein, so genau nicht. Aber ich schätze Männer.“

„Wenn Sie das nicht so genau sehen konnten, woher wollen Sie wissen, dass es Männer waren?“

„Weil  sich Frauen anders bewegen als Männer. Aber ich kann Ihnen nicht im Detail sagen, wie sie aussahen. Dazu ist es nun doch etwas zu weit entfernt.“ 

„Haben Sie wenigstens gesehen, was sie anhatten?“

Hanna überlegte nicht lange und antwortete: „Der mit dem Stock war  dunkel angezogen, der andere trug ein helles Oberteil, könnte eine Jacke gewesen sein.“

Der Wachtmeister schaute Frank an. „Sie kennen Ihre Frau am besten, Herr ...“

„Scholz!“

„Ja. Also meine Frage: Neigt Ihre Frau zu Phantastereien, Sensationslust oder können Sie mit gutem Gewissen sagen, dass an der Sache durchaus etwas dran sein könnte?“

„Wollen Sie etwa sagen, dass ich mir das nur einbilde oder zusammen reime?“, antwortete Hanna an Franks Stelle. Was bildete sich dieser Dorfpolizist eigentlich ein?

„Verstehen Sie mich nicht falsch“, erwiderte er nun zu mir gewandt. „Ich wollte Sie keineswegs beleidigen, aber was glauben Sie, wie vielen Anzeigen oder Verdächtigungen ich nachgehen muss, die sich am Ende als Irrtum herausstellen.“

„Was ich gesehen habe, ist keine Einbildung. Sie müssten doch nur dort die Stelle am Neunerköpfle absuchen, wo ich die Personen gesehen habe. Vielleicht ist der eine ja abgestürzt.“

„Hanna, also ich glaube, dass du nur einen harmlosen Streit zwischen zwei Freunden beobachtet hast.“

„Nennst du das harmlos, wenn der eine auf einen anderen einprügelt“

„Hast du vergessen, dass du schon einmal jemanden zu Unrecht verdächtigt hast?“

„Das ist ja interessant“, rief der Polizist. Seine Stimme hörte sich in Hannas Ohren schadenfroh an.

„Es ist also nicht das erste Mal, dass Sie etwas in dieser Richtung behaupten.“

Sie schnappte nach Luft und rief: „Sind Sie nun Psychologe oder Polizist ...“ Frank unterbrach sie.  

„Lass es gut sein, Hanna! Ende der Debatte.“ Und zu dem Polizisten gewandt: „Entschuldigen Sie, dass wir Sie bemüht haben. Wir vergessen die Sache einfach und ich bringe Sie noch hinunter zur Haustür.“

Hanna war stinksauer. Wie konnte ihr Frank nur so in den Rücken fallen? Sie vor dem Gendarm hinstellen, als würde sie reihenweise Leute zu Unrecht verdächtigen. Nur weil ihr das einmal passiert wart.  

Es dauerte eine ganze Weile, bis Frank zurückkam.  

„Wo warst du noch solange?“

„Bei Helmut. Er sah das Auto auf dem Parkplatz stehen und wollte wissen, ob Polizei hier im Haus war.“

„Und? Hast du ihm etwas erzählt?“

„Naja, er war halt neugierig und wollte alles wissen. Ist ja auch nichts dabei, oder?“

Regina und Helmut Möller aus Bonn hatten die Ferienwohnung gleich neben der von Hanna und Frank. Es war purer Zufall, dass beide Ehepaare schon etliche Male zur gleichen Zeit in der Waldesruh Urlaub machten. Manchmal trafen sich die Vier auf einer Wanderung oder im Treppenhaus. Oft auch mal im Biergarten, der zum Haus gehörte. Die Männer tranken dann ein Bier und bestritten allein die Unterhaltung, während die Frauen nur zuhörten. Hanna hätte sich gerne mit Regina unterhalten, aber außer ein paar Höflichkeitsfloskeln kam nie ein Gespräch zustande. Das war schon in den vergangenen Jahren so gewesen. Hanna vermutete, dass diese Frau, die einem nie richtig in die Augen schauen konnte und meist verlegen auf den Boden starrte, Angst hatte. Vor ihrem Mann? Wundern würde sich Hanna nicht, denn Helmut hatte etwas an sich, dass ihr zuwider war. Sie mochte diesen Mann nicht und sie glaubte, dass er es auch wusste. Allein schon sein stechender kalter Blick genügte, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Hanna hatte bei gelegentlichen Treffen im Biergarten auch noch nie erlebt, dass Helmut nett zu seiner Frau war, ihr etwas Schönes sagte. Ob er ihr gegenüber wohl gewalttätig war, fragte sich Hanna.  

Frank jedenfalls verstand sich ganz gut mit ihm.    

„Musstest du ausgerechnet Helmut Möller erzählen, weshalb die Polizei hier war?“   

„Da ist doch nichts dabei. Du reagierst ja nur so empfindlich, weil du Helmut nicht magst.“

„Nein, ich konnte ihn nie ausstehen und Regina tut mir leid, sie kommt mir so eingeschüchtert vor, steht total unter der Fuchtel ihres Mannes. Sollte mich nicht wundern, wenn er sie sogar schlägt.“

„Hanna! Wie kannst du so etwas behaupten?“

„Schau sie dir doch an. Sie wirkt auf mich eingeschüchtert. Hast du nicht am Freitagabend bemerkt, wie er ihr über den Mund fuhr, als sie sich in eure Unterhaltung einklinkte?“

„Ja, das fand ich auch nicht richtig, aber wie die beiden miteinander umgehen, ist deren Sache. Und selbst wenn er sie schlägt, warum zeigt sie ihn dann nicht an?“

„Aus Angst, ist doch klar.“

Frank schwieg einen Moment, dann meinte er: „Wir sollten uns besser um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern. In ein paar Tagen sehen wir die beiden sowieso nicht mehr. Helmut hat mir vorhin im Flur erzählt, dass er und Regina zum letzten Mal hier Urlaub machen.“

„Aha“, war Hannas ganzer Kommentar.  

Für den Rest des Abends zog sie sich zurück und versuchte, sich mit einem Buch abzulenken, was ihr jedoch nicht gelingt.  

Auch am nächsten Morgen war Hannas gute Laune noch nicht zurückgekehrt. Das Wetter war wieder besser und Frank machte den Vorschlag, zur Landsberger Hütte aufzusteigen.

Als Hanna nicht gleich antwortete, fragte er: „Bist du noch immer beleidigt?“

„Ich bin nicht beleidigt, nur sauer. Wie konntest du gestern vor dem Polizisten meine Glaubwürdigkeit anzweifeln? Auf meine Seite hättest du dich stellen müssen.“

„Hanna! Hätte ich lügen sollen? Ich habe doch nicht gesehen, was du gesehen haben willst.“

„Du glaubst also tatsächlich, dass ich mir alles nur eingebildet habe?“

„Nein, Schatz. Nicht alles.“

Frank packte seine Kameraausrüstung zusammen und gab seiner Frau zu verstehen, dass dieses Thema für ihn beendet war. Sie einigten sich, nach Pfronten zu fahren, aber so richtig konnte Hanna den Tag dort nicht genießen. So war sie froh, als sie am Nachmittag wieder in ihrer Wohnung waren.  

Sie hatten es sich gerade auf dem Balkon gemütlich gemacht, als es an ihre Tür klopfte. Frank öffnete und kam in Begleitung von Wachtmeister Pötschke zurück.

„Guten Tag, Frau Scholz“, begrüßte er sie nach einigem Zögern. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich Ihre Beobachtungen gestern nicht ernstgenommen habe.“ Er räusperte sich. „Spaziergänger haben heute Vormittag einen Mann gefunden drüben am Neunerköpfle. Er muss ein gutes Stück den Abhang hinuntergefallen sein, ein Strauch verhinderte, dass er völlig in die Tiefe stürzte.“

„Ist der Mann tot?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Ja! Und er trug einen hellbeigen Anorak.“

Hanna sank in ihrem Stuhl zurück und fing an zu zittern. Eiskalt lief es ihr den Rücken hinunter. Sie brauchte einige Sekunden, um sich wieder zu beruhigen.

„Ist er durch den Sturz gestorben?“

„Das weiß ich noch nicht. Er wurde in die Gerichtsmedizin gebracht. Das wollte ich Ihnen lieber persönlich mitteilen. Wenn noch Fragen auftreten, melde ich mich bei Ihnen. Wenn Sie mir Ihre Handynummer geben, rufe ich an. Und jetzt wünsch ich Ihnen noch einen schönen Rest des Tages.“

Der Polizist hatte es mit einem Mal sehr eilig, dachte Hanna. Er nahm die Visitenkarte aus Franks Hand und verschwand.   

„Siehst du, Frank, ich habe mir das alles also doch nicht eingebildet.“

„Es steht aber nicht fest, ob der Mann getötet wurde. Das ist einzig und alleine eine Vermutung von dir, habe ich recht?“

„Ja“, gab sie zu. „Aber ausschließen kann man es nicht.“

Am späten Nachmittag des nächsten Tages, einem Mittwoch, sie kamen gerade von einem Ausflug zurück, kam ein Anruf von Wachtmeister Pötschke. Sie wurden gebeten, nach Tannheim in die Dienststelle zu kommen. Hanna beschlich ein eigenartiges Gefühl, das sie während der ganzen Fahrt dorthin nicht los ließ. Zwei Männer erwarteten sie. Gendarm Pötschke und ein Herr in Zivil, der sich als Inspektor Danninger aus Reutte vorstellte.

„Herr und Frau Scholz“, begann er. „Bitte, setzen Sie sich. Ich habe Sie hergebeten, um mit Ihnen über den Toten vom Neunerköpfle zu sprechen. Wachtmeister Pötschke erzählte  mir bereits, dass Sie am Montag merkwürdige Beobachtungen durch ein Fernrohr gemacht haben.“

„Ja“, antwortete Frank. „Das war meine Frau.“

„Was genau haben Sie gesehen, Frau Scholz?“

Der Inspektor wandte sich Hanna zu. Sie wiederhole, was sie schon vor zwei Tagen dem Wachtmeister berichtet hatte.  

„Und den Mann mit dem Stock können Sie nicht beschreiben?“

„Nein, Einzelheiten, wie das Gesicht, konnte ich nicht erkennen. Ich weiß nur, dass der Kerl dunkel angezogen war.“

„Schwarz? Dunkelbraun oder grau?“, fragte der Inspektor.

„Auf die genaue Farbe habe ich nicht geachtet, erkannte nur, dass sie dunkel war. Vielleicht weiß Frank ... mein Mann es, denn er hat ihn ja auch kurz gesehen, als er durch das Fernrohr sah.“

Der Inspektor schaute Frank an.

„Naja, ich habe einen Mann des Weges gehen sehen, aber die Farbe der Kleider? Ob braun, schwarz oder grau? Keine Ahnung. Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiter helfen.“

„Es wäre uns schon wichtig, wenn wir die genaue Beschreibung des Mannes hätten. Vielleicht ist er ja noch anderen Wanderern begegnet“, meinte der Inspektor.

„War es denn kein Unfall?“, wollte Hanna wissen.

Inspektor Danninger zögerte einen Augenblick.  

„Eigentlich dürfte ich Ihnen das nicht erzählen, doch da ich auf Ihre Mithilfe angewiesen bin, mache ich eine Ausnahme. An dem Sturz wäre der Mann sicher nicht gestorben, aber durch Schläge auf den Kopf. Genauer gesagt an der Hirnblutung, die durch diese Schläge hervorgerufen wurde.“

„Da habe ich mir die Geschichte also doch nicht eingebildet. Armer Kerl. Wissen Sie denn schon, wer er ist?“

„Nein, leider noch nicht. Momentan wird das Gebiet auf brauchbare Spuren durchsucht.“

Ein Gedanke schießt Hanna plötzlich in den Sinn. Sie schaute Frank an.

„Hast du am Montag das Alpenglühen mit deinem Teleobjektiv fotografiert?“

„Ja, ich wollte die Berge so nahe wie möglich vor die Linse bekommen.“

„Vielleicht kann man auf den Bildern etwas erkennen, falls Sie den Bereich fotografiert haben, wo das Verbrechen geschehen ist“, mischte sich der Wachtmeister ein.

„Glaube ich kaum. Trotz Teleobjektiv mit hohem Brennbereich komme ich nicht so nahe an die Berge heran wie mit dem Fernrohr.“

„Ein Versuch wäre es wert, Herr Scholz“, entgegnete der Inspektor. „Wir vergrößern die Bilder. Unser Techniker kann da wahre Wunder vollbringen.“

„Dann bringe ich Ihnen morgen meine Kamera“, versprach Frank.

„Wachtmeister Pötschke kann Sie in Ihre Pension begleiten, und bringt die Kamera gleich mit hierher, so verlieren wir keine Zeit. Das war es vorerst. Ich melde mich, falls noch Fragen auftreten. Ihre Handynummer habe ich ja.“

Sie verabschiedeten sich von Inspektor Danninger und fuhren, gefolgt von Wachtmeister Pötschke, in die Ferienwohnung. 

Die Stimmung zwischen den Eheleuten war alles andere als rosig, als Pötschke mit der Kamera gegangen war. Sie hingen beide ihren Gedanken nach und es wollte einfach keine Unterhaltung in Gang kommen. Hanna hoffte so sehr, dass sich Frank bei ihr entschuldigen würde. Aber er tat es nicht.

Sie aßen eine Kleinigkeit, danach bewegte sich Frank zur Tür:  „Ich gehe noch auf ein Bier ins Bierstübchen. Kommst du mit?“

Sie verneinte, zu Geselligkeiten hatte sie heute keinen Kopf mehr.

„Dann frag ich Helmut. Wird aber nicht allzu spät, versprochen.“

Vom Balkon aus sah sie, wie die beiden einige Minuten später über den Hof gingen.  

Das Programm im Fernseher war miserabel. Auch das Weiterlesen in ihrem Buch klappte heute nicht, weil Hanna mit ihren Gedanken ganz woanders war. Sie musste sich irgendwie ablenken. Vielleicht sollte sie Regina besuchen. Vielleicht kam ja heute endlich einmal ein Gespräch mit ihr in Gang. Helmut war ja mit Frank unterwegs.

Zuerst klopfte sie vergebens. Regina war sicher noch nicht schlafen gegangen, denn es drangen Stimmen nach draußen, die vermutlich aus dem Fernsehapparat kamen.  

Nach dem dritten Klopfen hörte Hanna ihre Stimme hinter der Wohnungstür: „Wer ist da?“

„Frau Scholz von nebenan. Haben Sie Lust auf einen Plausch?“

„Nein danke, mir geht es heute nicht so gut. Ich habe Kopfschmerzen und möchte lieber allein sein.“

„Nehmen Sie doch eine Tablette.“

„Ich habe keine, die vergesse ich ständig mitzunehmen.“

„Ich hole Ihnen welche. Einen Moment.“

„Das brauchen Sie nicht. Ich nehme nicht so gerne Schmerzmittel.“

„Ich auch nicht“, antwortete Hanna. „Aber hin und wieder ist es nicht schädlich. Ich bringe sie Ihnen rüber.“

Regina sagte etwas, doch Hanna war schon weg. Kurz darauf klopfte sie erneut an die Tür.  

„Ich bin es mit den Tabletten, machen Sie kurz auf, dann sind Sie mich auch gleich wieder los.“

„Ich habe doch gesagt, dass ich keine nehmen möchte. Ich will nur meine Ruhe. Bitte, gehen Sie!“

Komisch, dachte Hanna. Wenn sie wirklich Kopfweh hatte, könnte sie doch die Tür öffnen, die Tabletten nehmen und die Tür wieder schließen. Sie brächte ja die Dinger nicht zu schlucken.  

Nun ging Hanna aufs Ganze. „Hat Ihr Mann Ihnen verboten, mit mir zu sprechen?“

Stille, dann: „Wie kommen Sie darauf?“

Hanna zog es vor, auf diese Frage nicht zu antworten und sagte stattdessen: 

„Dann können Sie mir auch kurz öffnen und die Tabletten entgegennehmen.“

„Mir geht es nicht gut. Jetzt gehen Sie, bitte.“

„Wie kann Ihr Mann Sie dann allein lassen, einen trinken gehen, wenn es Ihnen nicht gut geht? Ich glaube eher doch, dass er Ihnen verboten hat, mit mir zu reden.“

„Es macht mir nichts aus, allein zu sein. Helmut hat versprochen, nicht so lange weg zu bleiben.“

Hatte sich Hanna verhört oder klang Reginas Stimme jetzt weinerlich?  

„Regina! Was ist mit Ihnen? Weinen Sie?“

Es blieb still hinter der Tür.

„Regina, ich will Sie nicht bedrängen, wirklich nicht. Aber ich mache mir Sorgen um Sie.“

„Um mich?“

„Ja. Stimmt es, dass Ihr Mann Ihnen verboten hat, mit mir zu reden?“

Hanna war schon auf eine weitere Abwehrreaktion gefasst, da sagte Regina: „Ja. Er mag nicht, dass ich mich mit anderen unterhalte, wenn er nicht dabei ist. Er hat abgeschlossen und es gibt nur einen Schlüssel. Aber Sie dürfen nicht verraten, dass ich es Ihnen gesagt habe, bitte! Auch nicht Ihrem Mann.“

„Sie können sich auf mich verlassen. Dann will ich wirklich nicht weiter stören. Gute Nacht, Regina.“

Das ist ja wirklich allerhand, dachte Hanna. Dieser Helmut Möller wurde ihr immer unsympathischer. Und mit ihm ging Frank auch noch ein Bier trinken! Am liebsten würde sie ihm erzählen, was Regina vor einigen Minuten gesagt hatte, aber sie wollte Reginas Vertrauen nicht enttäuschen, also würde sie schweigen. Auch wenn es ihr schwer fiel.  

Hanna schlief schon, als Frank zurückkam. Doch gleich am nächsten Morgen ging sie direkt auf ihr Ziel los.

„Sag es mir lieber gleich, dass du Helmut von unserem Besuch auf der Polizeidienststelle erzählt hast.“

Frank schaute seine Frau entgeistert an. „Hast du schlecht geträumt, weil du heute Morgen gar so biestig bist?“

„Durchaus nicht. Ich habe dir nur eine harmlose Frage gestellt, die du sicher beantworten kannst, oder?“

„Klar kann ich das. Ja, wir haben auch über das gesprochen, was am Neunerköpfle passiert ist. Helmut ist ziemlich interessiert an dem Geschehen. So etwas kommt ja schließlich nicht alle Tage vor, sagt er.“

Hanna schwieg, während sie den Frühstückstisch deckte. Da kam Frank zu ihr und umarmte sie.   

„Schatz, was ist eigentlich los? Seit wir gestern von der Polizei zurück sind, benimmst du dich mir gegenüber so eigenartig. Bist du sauer auf mich, wenn ja, warum?“

„Da fragst du noch?“, rief sie aufgebracht. „Nachdem es sich herausgestellt hat, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag, hatte ich eigentlich gehofft, du würdest dich bei mir entschuldigen. Immerhin hast du meinen Verdacht  verharmlost, aber was noch schlimmer ist, du hast mich als überdreht und unglaubwürdig hingestellt.“

„Du hast ja recht, ich habe deine Beobachtung als harmlos abgetan und gedacht, dass du dir da etwas zusammenreimst, als ich nur eine Person durch das Fernrohr gesehen habe. Dann entschuldige ich mich jetzt in aller Form, Hanna. Aber sei bitte wieder gut.“

Frank, der immer noch den Arm um Hannas Schulter liegen hatte, beugte sich zu ihr runter und küsst ihre Wange. Sie fühlte, wie ihr Ärger allmählich verschwand und lehnte sich gegen seine Brust. Aber nur für kurz, dann deckte sie den Tisch fertig.

Am Nachmittag, Hanna wollte gerade Kaffee aufbrühen, meldete sich Wachtmeister Pötschke, der sie bat, in die Dienststelle nach Tannheim zu kommen.  

„Gut, dass Sie gleich Zeit haben“, empfing sie Inspektor Danninger, der ebenfalls anwesend war. Er wandte sich an Frank.

„Wir haben die Bilder, die Sie uns gegeben haben, von unserem Experten in Reutte entwickeln lassen. Mit viel Glück konnte er ein Foto soweit vergrößern und bearbeiten, dass zwei Personen darauf einigermaßen gut zu erkennen sind.“

„Ob wir Ihnen da weiterhelfen können?“, fragte Frank, der alte Skeptiker.

„Wir dürfen nichts unversucht lassen“, antwortete Danninger. „Schauen Sie sich wenigstens das Bild einmal an.“

 Wachtmeister Pötschke hantiert an seinem Computer herum und verkündete: „Hier haben wir es. Bitte!“

Er drehte den 21"- Monitor zu herum und Hanna beugte sich als erste zu dem Bildschirm vor. Die zwei Personen konnte man recht gut sehen. Und die eine kannte sie ...

„Das ... das ist doch Helmut Möller", rief sie fassungslos aus, während sie mit dem Zeigefinger auf die dunkel bekleidete Person deutete.   

„Was?“ Franks Stimme überschlug sich fast. „Helmut? Das glaube ich nicht. Lass mal sehen.“

Er schob Hanna zur Seite und starrte auf den Monitor.

„Tatsächlich. Ich fasse es nicht.“

„Sie kennen beide den Mann?“, fragte Inspektor Danninger.  

„Ja“, erwiderte Hanna. „Helmut Möller. Wohnt mit seiner Frau in der Ferienwohnung direkt neben uns.“ Sie rang immer noch mit der Fassung. Alles hätte sie diesem Mann zugetraut, aber einen Mord?

Frank starrte weiterhin auf den Bildschirm.

„Ich kann das einfach nicht glauben, Herr Inspektor. Gestern Abend noch habe ich mit ihm ein Bier getrunken. Wir haben uns dabei gut unterhalten.“

„Und du hast ihm auch noch alles erzählt“, entfährt es Hanna. „Er weiß sogar, dass die Polizei sich deine Bilder anschauen wollte.“

„Sie haben also mit diesem Möller über die Vorkommnisse am Neunerköpfle geredet, Herr Scholz?“, wollte der Inspektor wissen.

„Ja, ich habe mir doch nichts dabei gedacht.“

„Kennen Sie das Ehepaar näher?“, fragte nun der Wachtmeister.

„Seit vier Jahren machen wir rein zufällig zur gleichen Zeit in der Waldesruh Urlaub, aber sonst haben wir keinen Kontakt. Sie wohnen in Bonn und wir in Mannheim.“

„Dann werden wir Herrn Möller mal einen Besuch abstatten. Wie man auf dem Foto sieht, trug er keine Handschuhe, es müssten also seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe zu finden sein“, meinte der Inspektor.

„Haben Sie den Stock denn gefunden?“, fragte Hanna.

„Ja, die Spurensuche war fündig. Hinter einem Strauch lag ein kräftiger Ast, darauf haben wir Blutspuren sichergestellt, die wir dem Opfer zuordnen konnten.“

Danninger wandte sich dem Wachtmeister zu. „Kommen Sie mit, Pötschke. Holen wir uns diesen Herrn Möller. Sie beide bleiben sicherheitshalber hier im Ort oder setzen sich gegenüber in das Café, bis wir zurück sind.“ 

Bald darauf rührte Hanna in ihrer Kaffeetasse herum und schaute Frank an, der ihr gegenüber saß.  

„Finde ich richtig nett von diesem Inspektor, dass er uns bereitwillig von den Ermittlungen erzählt.“

„Hm!“, brummte Frank.

„Hättest du das von Möller gedacht?“

Frank schaute zu seiner Frau, räusperte sich und antwortete:

„Nein. Ich gebe ja zu, dass er nicht gerade fürsorglich und freundlich mit Regina umspringt, aber ich bin ganz gut mit ihm klargekommen. Du hast ihn ja schon immer abgelehnt.“

„Ich habe dir auch gesagt, warum. Er ist mir nicht ganz geheuer und ich habe nach wie vor den Verdacht, dass er seine Frau schlecht behandelt. Aber einen Mord hätte ich ihm jetzt doch nicht zugetraut.“

Von ihrem Platz im Café aus sahen sie die Polizei zurückkommen. Helmut war nicht bei ihnen.

„Weder Herr noch Frau Möller waren in ihrer Wohnung“, erklärte der Inspektor, als das Ehepaar wieder in Pötschkes Büro stand.   

„Frau Wagner, die Pensionswirtin, sagte uns, dass sie am Vormittag zu einer Wanderung aufgebrochen sind. Wohin wusste sie nicht.“

„Und was werden Sie jetzt tun?“, fragte Hanna.

„Wachtmeister Pötschke wird vor Ihrer Pension Posten beziehen und warten, bis das Ehepaar Möller wieder von seiner Wanderung zurück ist. Sie beide bleiben in Ihrer Wohnung, aber unternehmen nichts, was Sie gefährden könnte.“

„Geht in Ordnung“, versprach Frank.

Hanna nickte nur.

Vom Balkon aus konnte man später Wachtmeister Pötschkes Streifenwagen stehen sehen. Helmut würde ihn ebenfalls bemerken, wenn er zurückkam.   

„Die Polizei sitzt da unten quasi auf dem Präsentierteller“, meinte Hanna zu Frank. „Der Möller ist doch nicht dumm und wird sofort Verdacht schöpfen. Dank deiner Geschwätzigkeit kann er sich zusammen reimen, dass die Polizei ihm über kurz oder lang auf der Spur ist.“

„Lass es jetzt endlich gut sein, Hanna. Ich kann es ohnehin nicht mehr ändern nur hoffen, dass dieser Albtraum bald vorüber ist.“

Darin  stimmte sie ihm zu.   

Die Zeit verging, doch die Möllers kamen nicht. Allmählich war es dunkel geworden und das machte die Observierung nicht einfacher.

Diese Warterei zerrte an ihren Nerven. Dann klopfte es an die Tür. Da der Eingang zur Pension bis um 22 Uhr offen stand, nahmen sie an, dass es Wachtmeister Pötschke sei. Hanna öffnete. Ein fataler Fehler von ihr, denn es war nicht die Polizei, sondern Helmut.

Hanna wollte die Tür sofort wieder zuknallen, doch er war schneller, packte sie grob am Arm, schob sie in den kleinen Flur und gab der Tür einen Tritt, sodass sie hart ins Schloss fiel. Dann stieß er sie unsanft in den Wohnbereich. Frank blickte ihnen erschrocken entgegen und rief:

„Was soll das, Helmut? Lass sofort meine Frau los.“

„Halt die Klappe!“, zischte Helmut. „Ihr beide seid doch schuld daran, dass die Bullen hinter mir her sind. Aber so leicht bekommen die mich nicht. Du machst genau das, was ich dir sage, Frank. Dann wird deiner Frau auch nichts passieren.“

Die Angst schnürte Hanna fast die Kehle zu, als sie nach Regina fragte.  

„Ha! Die ist gut versorgt“, antwortete Möller eiskalt, dann herrschte er Frank an: „Mach die Balkontür zu, aber flott!"

Nachdem Frank der Aufforderung gefolgt war, stellte er sich vor Möller. „Und jetzt lass sie los. Wenn du eine Geisel willst, dann nimm mich.“

„Das musst du schon mir überlassen“, höhnte Möller.

Hanna lag plötzlich etwas schwer auf der Zunge, das unbedingt heraus wollte: „Gewalt gegenüber Frauen macht Ihnen ja viel mehr Spaß, hab ich recht?“

Im nächsten Augenblick spürte sie einen so derben Stoß im Rücken, dass ihr die Luft weg bleibt. Es dröhnte in ihren Ohren und das Zimmer begann sich vor ihren Augen zu drehen. Dann fehlten ihr einige Minuten in ihrem Leben.

Als sie wieder zu sich  kam, schaute sie in Franks besorgtes Gesicht. „Hanna!“, rief er. „Gottseidank bist du wieder bei dir. Bleib ganz ruhig liegen, bis der Arzt kommt.“

„Ich brauch keinen Arzt. Was ist denn passiert?“

Sie versuchte sich aufzurichten, aber ein erneuter Schwindel ließ  sie wieder auf das Kissen sinken. „O Mann, hab ich Kopfweh. Und erst mein Rücken“, stöhnte sie und schloss die Augen.

„Du sollst doch liegen bleiben“, befahl ihr Frank in strengem Ton.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie noch einmal, doch dann war die Erinnerung wieder da.

„Helmut ...! Er war in unserer Wohnung  ...“

„Ist schon gut, Schatz“, unterbrach sie Frank. „Es ist alles vorbei. Als du durch den harten Stoß in den Rücken ohnmächtig wurdest, muss Helmut für einen Moment irritiert gewesen sein. So konnte ich ihn überwältigen.“

„Ja, Sie können stolz auf Ihren Mann sein“, hörte sie von der Schlafzimmertür her die Stimme des Wachtmeisters.

„Ich bringe Herrn Möller nach Tannheim in unsere Arrestzelle, Dort darf er erst einmal bis morgen schmoren. Wenn es Ihrer Frau besser geht, dann kommen Sie beide gegen 10 Uhr vorbei, dann ist auch der Inspektor wieder hier."

„Fragen Sie ihn, was er mit seiner Frau gemacht hat!“, bat Hanna.  

„Das habe ich ihn schon gefragt, aber er hat auf stur geschaltet. In ihrer Wohnung ist sie jedenfalls nicht. Also bis morgen und gute Besserung, Frau Scholz.“

Der Doktor kam trotz fortgeschrittener Stunde und untersuchte ihren Rücken. Er glaubte nicht, dass Wirbel verletzt wären, riet aber vorsichtshalber, sich röntgen zu lassen. Gegen die Schmerzen spritzte er ihr etwas.

In dieser Spritze musste Schlafmittel gewesen sein, denn es dauerte nicht lange, bis sie einschlief. Erst als die Sonne ins Zimmer schien, wachte Hanna auf. Sie hörte Frank in der kleinen Küche herum hantieren und es duftete herrlich nach frisch gebrühtem Kaffee. Es war 8 Uhr 30.

Die Schmerzen im Rücken waren so gut wie weg.  

Pünktlich um 10 Uhr erschienen sie in der Polizeidienststelle. Inspektor Danninger war schon da und teilte ihnen mit, dass Helmut Möller vor einer halben Stunde nach Reutte überführt worden war. Hanna war es recht, dass sie ihn nicht mehr sehen mussten. Sie machte sich nur Sorgen um Regina und das sagte sie auch dem Inspektor.  

„Da Herr Möller uns nicht verraten wollte, wo seine Frau sich aufhält, müssen wir eine Vermisstenanzeige aufgeben. Die Wohnung der beiden wird gerade nach Spuren untersucht. Ein Bild von Frau Möller würde uns die Suche erleichtern. Haben Sie denn keine Vermutung, wo sie sein könnte?“

Hanna verneine. „Wir haben ja nie viel miteinander reden können. ihr Mann mochte das nicht.“

„Und Sie, Herr Scholz? Sie verstanden sich doch mit dem Mann. Worüber haben Sie sich unterhalten?“

„Über eher Belangloses. Sport, hauptsächlich Fußball, über seine Arbeit bei einer Großdruckerei, über sein Hobby Klettern, und dass er am letzten Tag noch zur Landsberger Hütte aufsteigen wollte. Außerdem hat er erzählt, dass er und Regina in diesem Jahr zum letzten Mal hier Urlaub machen.“

„Hat er auch den Grund genannt?“, fragte Pötschke, der unsere Aussagen mitschrieb.

„Nein, und ich habe auch nicht gefragt.“

Sie erzählten alles, was sie wussten, hofften, dass Regina bald gefunden wurde.  

Den Rest des Tages verbrachten sie in der Wohnung. Sie reden viel und dachten darüber nach, noch ein paar Tage länger zu bleiben, falls die Wohnung noch frei war. Zumindest aber so lange, bis sie wussten, was mit Regina Möller geschehen war.    

Was die Verlängerung ihres Aufenthaltes betraf, hatten sie Glück, denn die Wohnung war noch frei bis einschließlich Mittwoch nächster Woche.

So verging der Freitag und am Samstag gegen Mittag rief Wachtmeister Pötschke an und teilte ihnen mit, dass Frau Möller mit mittelschweren Verletzungen in der Nähe der Landsberger Hütte gefunden worden war. Sie lag in einem ausgetrockneten Bachbett und hatte Glück, dass ihr weißer Anorak zwei Wanderern aufgefallen war.

„In welchem Krankenhaus liegt sie?“

„In Reutte. Ich glaube, sie würde sich sicher freuen, wenn sie ein paar bekannte Gesichter sieht. Soweit wir wissen, ist ihr Zustand stabil und sie ist bei Bewusstsein.“

Regina freute sich wirklich über den Besuch. Ihre Augen waren geschwollen, das rechte sogar blau unterlaufen. Auf Kinn und Wangen hatte sie zahlreiche Hämatome. Hanna vermutete, dass sie auch welche am ganzen Körper hatte.

„Wie geht es Ihnen, Regina?“ Hannas Stimme klang etwas heiser.

„Ach, wäre ich doch tot“, flüsterte sie.   

„So etwas dürfen Sie nicht sagen, Regina. Die Ärzte hier bekommen Sie schon wieder hin.“

 „Ja, die äußeren Wunden, aber die in meiner Seele nicht. Wie konnte ich nur auf Helmut hereinfallen? Robin hat mich ja schon vor der Hochzeit gewarnt, aber ich war so verliebt, dass ich ihn auslachte. Robin ist  ... war mein älterer Bruder. Helmut hat mir auf dem Weg zur Landsberger Hütte genau beschrieben, wie er ihn getötet hat.“

Hanna drückte Reginas Hand. Dann war der zweite Mann am Montagabend also Reginas Bruder gewesen, dachte sie voller Entsetzen.

„Hat die Polizei Sie schon befragt?“

„Ja, ein Inspektor war vor einer Stunde hier. Ich habe ihm alles erzählt. Hoffentlich bekommt Helmut seine Strafe. Aber das bringt mir meinen Bruder auch nicht wieder zurück.“

Regina drehte den Kopf zur Seite, aber sah trotzdem, dass sie weinte.

Am Dienstag durfte Regina das Krankenhaus verlassen. Ihre Mutter aus Bonn war gekommen, um sich um ihre Tochter und die Überführung ihres Sohnes zu kümmern.  

Hanna und Frank reisten am Tag darauf ab. Die Polizei hatte keine Einwände, und die genaue Anschrift, falls noch Fragen auftraten, lag ihnen ja vor.

So endete ein recht turbulenter Urlaub und während sie die 107 Kurven des Jochpasses hinunterfuhren, dachte Hanna an den Abschied von Regina. Sie wollten auch in Zukunft miteinander in Kontakt bleiben. Telefonieren oder per Email. Das hatten sie sich  fest vorgenommen.

Und eines Tages erfuhren sie auch die ganze Geschichte.     

Helmut Möller, der ein volles Geständnis abgelegt hatte, war ein Spieler und hatte hohe Schulden gemacht. Als seine Frau und deren Bruder vor einigen Monaten eine Erbschaft machten, sah Helmut seine Chance gekommen, die Schulden durch erneutes Spielen zu begleichen. Durch eine gefälschte Vollmacht verschaffte er sich Zugang zu Reginas Konto und hob noch vor dem Urlaub eine höhere Summe ab. Durch einen dummen Zufall erfuhr Robin davon und wollte zuerst seine Schwester darüber informieren, bevor er seinen Schwager zur Rede stellte. Robin reiste nach Tannheim, verabredete sich per SMS mit Regina an der kleinen Kapelle im Ort. Aber nicht sie, sondern Helmut las die SMS. Er schrieb von ihrem Handy aus rasch zurück und schlug einen anderen Treffpunkt vor. Dann löschte er sowohl seine Nachricht als auch die von Robin, damit Regina nichts merkte. Am Treffpunkt kam es dann an diesem verhängnisvollen Montagabend zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Todesfolge.

Helmut, der ohnehin geplant hatte, sich in diesem Jahr seiner wohlhabenden Frau durch einen herbeigeführten Unfall in den Bergen zu entledigen, musste jetzt schnell handeln. Doch sein Pech war, dass Regina überlebte und er aufgrund Hannas und Franks Mithilfe rasch überführt werden konnte. 

 

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